Mathäus 5, 1 – 7,29
Einleitung
Die folgenden Kapitel sind für das Verständnis davon, wie sich die Kirche zum Judentum verhält, wie sich das Erste Testament zum Neuen Testament verhält und welche Bedeutung die Thora für Christen hat, von großer Bedeutung.
Jesus tritt uns hier als Lehrer gegenüber, als der Messias, von dem die Juden der damaligen Zeit erwarteten, dass er die Thora in neuem Licht erscheinen läßt, dass er sie neu auslegt. So heißt es z.B. in Hen. 49,1-3: „Weisheit ist wie Wasser ausgegossen, u. Herrlichkeit hört nimmer vor ihm (Messias) auf ... denn er ist mächtig über alle Geheimnisse der Gerechtigkeit .... in ihm wohnt der Geist der Weisheit und der Geist dessen, der Einsicht gibt, u. der Geist der Lehre und Kraft...“.
Von daher sehen wir auch die Beunruhigung der Zuhörer am Ende der Lehrrede: Die Menschen staunten über seine Lehre, denn er lehrte mit Vollmacht, nicht wie die Schriftgelehrten es taten. Rabbiner und Schrift-gelehrte pflegten ihre Lehrauffassungen mit den Meinungen anderer, möglichst angesehener und meist schon verstorbener Gelehrter zu begründen. Etwa nach der Formel: Rabbi X sagt im Namen des Rabbi Y, welcher im Namen des Rabbi Z sagte .... (folgt die Lehraussage). Jesus sagt in seiner Lehrrede wiederholt: „Es wurde euch gesagt, ich aber sage euch ....“ (folgt die Lehr-aussage. Darüber kennen wir die Reden der Propheten, die eingeleitet wurden mit den Worten: „So spricht der Herr...“. Auch demgegenüber sagt Jesus schlicht: „Ich aber sage euch ...“
Er lehrte wie einer der Vollmacht hatte. Er muss als Lehrer eine gute Arbeit geleistet haben, denn die Jünger, denen der auferstandene Herr auf dem Weg nach Emmaus die Schrift auslegte, fanden, dass ihnen „das Herz brannte“, dass ihr gesamtes inneres Wesen von der Lehre ergriffen war. Jesus muss auch deshalb gute Arbeit geleistet haben, weil aufgrund seiner Lehre mit Hilfe des Heiligen Geistes die Jünger in wenigen Jahrzehnten seine Lehre in „alle Welt“ getragen hatten – allen Verfälschungsversuchen und Irrlehren zum Trotz.
Zur Zeit Jesu war die Vorstellung der Juden darüber, wie jemand „gerettet“ werden kann in etwa folgender Maßen: Das Gesetz musste buchstäblich erfüllt werden, dann war derjenige, der dies tat, im Willen Gottes und wurde von ihm angenommen. Der Erfüllung von Geboten standen die Missetaten gegenüber wie auf einer Waage. Senkte sich die Schale mit den Missetaten, so kam der Missetäter in die Hölle, senkte sich die Schale mit den guten Taten, mit den Gebotserfüllungen, so war der Mensch gerecht und gerettet. Das war die Vorstellung dieser Zeit, das war die Lehre hauptsächlich der Pharisäer. Jesus wird zeigen, dass dies nicht dem biblischen Befund entspricht.
Gerecht wurde ein Mensch in der Vorstellung des Judentums also durch gute Taten, durch die Erfüllung von Geboten. „An Gelegenheit zu Gebots-erfüllungen ... mangelt es dem Israeliten nicht: die Tora begleitet ihn mit ihren Vorschriften auf Schritt u. Tritt, von der Wiege bis zu Bahre, so dass es niemand in Israel gibt, der nicht täglich 100 Gebotserfüllungen aufzuweisen in der Lage wäre.“
Durch die Erfüllung eines Gebotes wird ein Verdienst vor Gott erworben, mit der Übertretung eines Gebotes entsteht eine Schuld. Über Erfüllung und Übertretung wird im Himmel Buch geführt. Wie wir in der Betrachtung des Buchs der Offenbarung gesehen haben, ist diese Art von Buchführung auch am Ende der Zeiten nicht abgeschafft, allerdings mit dem Unterschied, dass die Buchhaltung über die Belohnung des Gerechten entscheidet und nicht darüber entscheidet, ob er gerecht ist oder nicht. Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, läßt sich nur durch die Annahme des Sühnetodes Jesu erreichen.
Für die damalige Auffassung genügt also eine Übertretung, welche die Gebots-erfüllung überwiegt, um den armen Menschen in die Verdammnis zu stürzen: „Da aber eine einzige an der Majorität fehlende Gebotserfüllung für das Gesamturteil über einen Menschen entscheidend werden kann, so wird dem Frommen der Rat erteilt, dass er sich immer zur Hälfte als einen Gerechten u. zur Hälfte als einen Gottlosen ansehe, vollbringt er dann eine Micvah, wohl ihm! Er hat die Waagschale der Verdienste zu seinen Gunsten geneigt.“
Dieser Art des frommen Lebensstils hat in der christlichen Kirche über einige Jahrhunderte Konjunktur gehabt; dann kam Luther und befand, dass man nicht durch Werke gerettet wird, sondern durch Glauben/Vertrauen. Den zuvor zitierten Satz (achte dich halb als gerecht und halb als verworfen) habe ich fast wörtlich in einer evangelikalen Predigt gehört, lange bevor ich ihn bei Strack-Billerbeck gelesen habe. Es sieht so aus, als wäre die Werkgerechtigkeit und die Ungewissheit über das eigene Heil nicht tot zu kriegen. Wir können uns also schon jetzt, ganz am Anfang unserer Betrachtung der Lehrrede darüber bewusst sein, dass auch uns die Gewissheit über unsere vorbehaltlose Annahme seitens Gottes wegen des Sühnetodes seines Sohnes, immer wieder verloren gehen kann.
Wir lesen und studieren die Bergpredigt nicht, damit wir wissen, wie wir gerettet werden können, sondern damit wir wissen, wie wir Gott gefällig leben und aller seiner Segnungen hier teilhaftig werden können, wie wir also glücklich leben können und dann später, wenn die Bücher aufgetan werden, eine anständige Belohnung erhalten.
Wir sollten darauf sehen, dass aus unserem Glauben, aus unserem Vertrauen auf das Erlösungswerk des Messias, gute Werke hervor kommen, nicht dass es uns so geht wie denen, zu denen Jesus sagen musste: Ich war krank und ihr habt mich nicht besucht, verschwindet, ich kenne euch nicht.
Für einen frommen Juden der damaligen Zeit kam es darauf an, die Verdienste möglichst zu mehren und die Sündenschuld zu verringern. Die Verdienste zu mehren war Aufgabe eines jeden einzelnen Menschen. Er konnte Gäste beher-bergen, Kranke besuchen, Gelehrte unterstützen, Trauernde trösten usw. Notfalls konnte man auch noch zurückgreifen auf die Verdienste der Väter.
Die Schuld ließ sich durch Sühnung mindern. „Der Mensch sühnt Sünde u. Schuld durch Buße, Fasten u. Gebet; Gott schafft Sühnung durch die im Gesetz vorgeschriebenen Opfer, durch den Versöhnungstag, durch Leiden, die er über den Menschen bringt, u. endlich durch den Tod des Menschen. Strack-Biller-beck hierzu: „Die altjüdische Religion ist hiernach eine Religion völligster Selbsterlösung; für einen Erlöser-Heiland, der für die Sünde der Welt stirbt, hat sie keinen Raum.“
Was sagen wir dazu? Ist Sündenvergebung durch das Opfern eines Tieres („ohne Blut keine Vergebung der Sünden“) wirklich „Selbsterlösung“? Würde das nicht bedeuten, dass die Thora Selbsterlösung lehrt und so, anstatt das Kommen des Messias vorzubereiten, das genaue Gegenteil macht, nämlich seine Annahme durch die Lehre der Thora selbst verhindert?
Der Bund mit Abraham wurde geschlossen durch das Vergießen von Blut (durch das „Schneiden“) der Opfertiere; wenn dieser Bund verletzt wird, muss erneut Blut vergossen werden, damit der alte Zustand wieder hergestellt werden kann.
Ist der Tod eines Menschen eine Sühne für seine Sünden? In der Zeit der alten Synagoge gab es diese Vorstellung. Aber selbst wenn diese Vorstellung stimmen sollte (sie stimmt nicht), wäre das denn „Selbsterlösung“? Der Mensch bringt sich doch nicht willentlich als Sündopfer selbst um; das wäre sogar Sünde.
Für die Zeit der alten Synagoge bleibt der Buchstabe der Thora für alles maßgeblich. „Ob es sich um seine religiös-sittlichen Pflichten gegen Gott handelte oder um sein Verhalten gegen Staat u. Gesellschaft, überall war sein Tun und Lassen geregelt durch die Satzungen der Halakah.“ Das menschliche Handeln wurde nach dem Buchstaben des Gesetzes beurteilt. „Lehrreich sind in dieser Hinsicht diejenigen Fälle, in denen man gewisse Gesetzesbestim-mungen auf Grund des Buchstabens einer andren Gesetzesbestimmung zum eigenen Vorteil umgehen konnte. Man nannte das „klüglich“ oder „schlau“ handeln. Tatsächlich lag in solchen Fällen eine Umgehung irgendeiner Gesetzesvorschrift vor; aber da sie durch den Buchstaben einer andren Gesetzesbestimmung legalisiert war, so galt sie als erlaubt u. berechtigt. Dass dieses „klügliche“ Verfahren eine besonders sittliche Handlungsweise darstellte, wird niemand behaupten; aber es zeigt, wie die pharisäische Gesetzespraxis das sittliche Verhalten allmählich herabdrückte auf eine Stufe mit dem korrekten Verhalten gegen den Buchstaben des Gesetzes. Das Gesetz hört auf, sittlichen Zwecken zu dienen, die Erfüllung seines Buchstabens wurde Selbstzweck. Das war die letzte Folge des Grundsatzes, dass die Erfüllung des Buchstabens des Gesetzes sich „decke mit der Erfüllung des Willens des göttlichen Gesetzgebers.“ Es wurde dann, um dem gegen zu steuern, verlangt, dass bei der Gesetzeserfüllung die Vorstellung vorhanden sein müsse, dass diese geschähe, um der jeweiligen Gesetzesbestimmung zu genügen; so wurde eine völlige Gedankenlosigkeit bei der Gesetzesferfüllung vermieden. Es wurde auch festgelegt, dass eine Gebotserfüllung, die durch den Verstoß gegen ein anderes Gebot zustande kommt, nichtig sei. Rabbinische Gelehrte ver-langten eine Herzensfrömmigkeit und es wurde der Grundsatz formuliert, dass das nachsichtige u. wohlwollende Verhalten gegen Menschen höher stehe als das rein legale Verhalten nach Maßgabe des starren Buchstabens des Rechts.
Diese Auffassung waren aber in der Minderheit, allgemein hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes dem Willen Gottes genüge tue.
Nun kommt Jesus. Wie geht er in der „Bergpredigt“ vor? Greift er die falschen Vorstellungen von der Rettung durch Werke oder die Meinung, dass die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes genüge, um den Willen Gottes zu erfüllen, direkt an? Das macht er nicht. Er zerstört nicht, er baut auf. Er bringt das Neue und erneuert das Alte. Er sagt seinen Zuhörern: „Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr gar nicht in das Himmelreich eingehen!"“(Mt. 5, 20) Dann zeigt er in einigen Beispielen, dass die Forderungen, die Gott stellt, weit über eine buchstäbliche Deutung hinausgehen. Die buchstäbliche Befolgung kann also nicht die Gerechtigkeit ergeben, die vor Gott gilt. Die Zuhörer sollen erkennen, dass ihre eigenen Anstrengungen nicht ausreichen, dass ihre eigene Kraft sie nicht gerecht machen kann. Daher sagt er ihnen gleich zu Anfang: seid arm im Geist, dann seid ihr selig, hungert nach der wahren Gerechtigkeit, dann werdet ihr selig.
Dieses „selig“ ist mit der Umschreibung „gesegnet, glücklich, vom Schicksal begünstigt“ wieder zu geben. In Psalm 144, 15 heißt es: „Wie gesegnet/glück-lich/vom Schicksal begünstigt ist das Volk, dessen Gott Adonai ist.“ Es steckt also eine Menge drin in diesem „selig“; es wäre gut, zu denen zu gehören, die „selig“ sind.
Vom Schicksal begünstigt zu sein, auch das kommt manch einem vielleicht bekannt vor. Wer kann Thora lernen? Nach den Pirke Avot, den Worten der Väter aus dem Talmud, ist dazu u.a. derjenige fähig, der sich über sein Schicksal freut, also derjenige, so kann man erweitern, der sich vom Schicksal begünstigt fühlt. Das muss nicht einmal den Tatsachen entsprechen, wenn man einen objektiven Maßstab anlegt. Vielleicht bist du krank, vielleicht alt und gebrechlich oder früh vergreist, vielleicht hast du in den letzten zwanzig Jahren deine Hausaufgaben nicht gemacht und stehst jetzt ohne Ausbildung im Leben. Bist du selig oder maulig? Du darfst dich entscheiden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen