Dienstag, 16. März 2010
Lehrrede auf dem Berg XXVIIII
Schauen wir uns folgendes Gleichnis an:
Lukas 12, 13-21:
„Sehet zu und hütet euch vor jeglicher Habsucht! Denn niemandes Leben hängt von dem Überfluß ab, den er an Gütern hat. Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Eines reichen Mannes Feld hatte reich getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Das will ich tun, ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin alles, was mir gewachsen ist, um meine Güter aufspeichern und will zu meiner Seele sagen: Seele, du hast einen großen Vorrat auf viele Jahre; habe nun Ruhe, iß, trink und sei guten Muts! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! In dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird gehören, was du bereitet hast? So geht es jedem, der sich Schätze sammelt und nicht reich ist für Gott.“
Ja, war dieser Mensch denn nicht klug? Was hat er denn anderes gemacht als einen „guten Fischzug“, wie die Jünger im vorherigen Beispiel auch?
Was sagt die Bibel? „Wer Getreide zurückhält, den verfluchen die Leute; aber Segen kommt auf das Haupt dessen, der Getreide verkauft.“
Die Menschen, die damals dieses Gleichnis hörten, wussten es einzuordnen, denn die Lehre der Rabbinen lautete: „Man darf keine Früchte (d.h. Getreide), Dinge, die als Lebensmittel dienen, z.B. Wein, Öl und Mehl, aufspeichern ... Man darf im Israellande Früchte für drei Jahre aufspeichern: für das Vorjahr des Sabbathjahres, für das Siebentjahr und für das Nachjahr des Siebentjahres.“ Ferner: „Man darf im Israellande an Dingen, die als Lebensmittel dienen, zum Beispiel Wein, Öl und Mehl, nichts verdienen (d.h. der Zwischenhandel ist verboten).“
Vielleicht hat von den Ossis im Lande noch einer das Lied von Ernst Busch im Ohr, in dem das Horten und Zurückhalten, sogar das Vernichten von Lebensmitteln angeprangert wird: „D‘rum rin mit dem Weizen in die Feuersbrunst!“ Schmeißt die Kaffeesäcke ins Meer, damit der Preis wieder steigt! Verbrennt die Rinder, das Rindfleisch ist zu billig. Haltet die Ernte zurück, die Inflation ist zu hoch!
Der reiche Grundbesitzer handelt der thora zuwider, und das kann nicht gut gehen.
Alles meins! Denkt er und liegt natürlich falsch: Wenigstens der Zehnte gehört ihm überhaupt nicht, er betrügt Gott und das kann nicht gutgehen.
„Soll ein Mensch Gott berauben , wie ihr mich beraubt? Aber ihr fragt: Wessen haben wir dich beraubt? Der Zehnten und der Abgaben! Mit dem Fluch seid ihr belegt worden, den mich habt ihr betrogen, ihr, das ganze Volk! Bringet aber den Zehnten ganz in das Kornhaus, auf dass Speise in meinem Hause sei, und prüfet mich doch dadurch, spricht der Herr der Heerscharen, ob ich euch nicht des Himmels Fenster auftun und euch Segen in überreicher Fülle herabschütten werde!“
Freitag, 15. Januar 2010
Lehrrede auf dem Berg XII
In Kapitel 24 spricht Jesus über die „Endzeit“, über eine Zeit die uns sehr bekannt vorkommt, weil wir darin leben und zumindest einige der Ereignisse erleben. Lasst uns das nachlesen.
Fertig? Gut.
In dieser Zeit wird von einem treuen Knecht erwartet, dass er den Leuten, die der Herr ihm anvertraut hat, zur rechten Zeit Speise gibt.
Dann fängt Kapitel 25 mit dem Satz an: „Dann wird das Himmelreich gleichen zehn Jungfrauen...“ Dann? Wann? In der Endzeit, in der Zeit in der es schrecklich zugeht, wird das „Himmelreich“ dieser Parabel gleichen. Sind deshalb die fünf weisen Jungfrauen ein gutes Beispiel? Sollen wir uns verhalten, wie die guten Manager, die den shareholder value voll im Blick haben? „... im Volksbewußtsein hat sich seit langem festgesetzt: Der christliche Gott wolle, dass man auch mit Geld und Vermögen im ganz realen Sinne „wuchere“ und dabei kein Risiko scheue, um es zu vermehren. Die Beob-achtung, die man überall machen kann, nämlich: Wer hat, dem wird gegeben, - dies beruhe auf einer göttlichen Anordnung.“
Kümmern wir uns zuerst um die Manager.
Zur Erklärung des Gleichnisses ist es nützlich, den geschichtlichen Hintergrund zu betrachten. Josephus überliefert in seinem Buch „Geschichte des jüdischen Krieges“ folgende Begebenheit aus dem Altertum:
Herodes I. (gest. 4 n. Chr.) hatte in seinem letzten Testament seinen ältesten Sohn Archälaos zum Nachfolger bestimmt. Aber nur, wenn der römische Kaiser – das war damals Augustus – das Testament be-stätigte, konnte die Verfügung des Herodes in Kraft treten. So wollte Archälaos sich nach Rom einschiffen, um sich dort beim Kaiser als Nachfolger seines Vaters auf den Königsthron zu bewerben (vgl. Lukas 19,14). Zu brutal und intrigant war das Haus des Herodes gegen die Bevölkerung vorgegangen. Sie hatten u.a. die Markt- und Wegezölle auf ein unerträgliches Maß hochgeschraubt, um sich persönlich zu bereichern. Aber Augustus bestätigte weitgehend das Testament Herodes I. er setzte Archälaos als Teilkönig über Judäa, Samaria und Idumäa ein (vergl. Lukas 19.15). Während seiner 9-jährigen Regierung unterdrückte er die Einwohner des Landes so grausam, wie es schon sein Vater getan hatte, und brach alle einstigen Versprechen, auch die, in ökonomischer Hinsicht milde zu sein. Josephus faßt seine Bericht über Archälaos so zusammen: „Seine Herrschaft war roh und tyrannisch.“
Damit können wir aus dem Zusammenhang wissen, dass dieser König nicht unser König ist und auch wir kommen als Knechte dieses Königs nicht in Betracht.
„Du bist ein harter Mensch, du nimmst, was du nicht hingelegt hast, und erntest, was du nicht gesät hast.“ Der Tyrann widerspricht dem nicht einmal, denn das ist die offensichtliche Wahrheit. Er verlangt sogar, der Knecht hätte doch gefälligst das Geld der Bank geben und mit Zinsen verleihen können. Ein klarer Verstoß gegen das Zinsverbot der Thora (Ex. 22,24; Lev. 25, 35-38; Dt. 23, 19f; Ez. 18,17).
Am Ende bringt der Tyrann den armen Kerl auch noch ohne Gerichtsverfahren um. Eine Tat, die auf Archälaos gut paßt: „Archälaos behandelte wegen der früheren Empörung (die Abordnung ist gemeint, die dem Herrn, dem Archälaos nachgereist ist, um den Kaiser zu veranlassen, ihm die Königwürde nicht zu geben) nicht nur die Judäer sonder auch die Samaritaner so grausam, dass er von Abordnungen beider Völker bei Kaiser verklagt und im 9. Jahr seiner Regierung nach .... Gallien verbannt wurde.“
So ist es in der Endzeit im Reich Gottes, das von seinem Bodenpersonal verwaltet wird. Deshalb sagt Jesus auch am Ende des Gleichnisses in Vers 31: „Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner Herrlichkeit ... wird er sie von einander scheiden .. die Schafe von den Böcken.“ Kann durchaus sein, dass dann ganz andere mit den Zähnen klappern.
Was ist das „Reich Gottes“? Die Frage sollten wir klären, damit es keine Mißverständnisse gibt.
(Lehrrede auf dem Berg; Matthäus 5 ff; auch: Bergpredigt)
Samstag, 28. November 2009
Lehrrede auf dem Berg VI
Lebe nach der freundlichen Weisung Gottes
„Ihr sollt nicht wähnen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen“. Vielfach leben Christen aber in diesem Wahn. Wir erinnern uns: Gesetz wäre besser mit „Lehre“ übersetzt und die Lehre hat mit „Gesetzlich-keit“ nichts zu tun. Gott sagt ausdrücklich: Ich werde meine Lehre in ihr Herz schreiben. Das wäre ein seltsames Vorhaben für einen veralteten Tagesbefehl. Warum sollte sich Gott diese Mühe machen, wenn die Thora aufgelöst wäre? Dementsprechend ist das Neue Testament Teil der Thora geworden, wurde als Thora gegeben. So sagt es der Brief an die Hebräer in Kapitel 8,6. Für die Wendung „als Thora gegeben steht dort: nenomothetetai. Dieses Verb „ist aus den Komponenten nomos und tithemi zusammengesetzt. Thitemi ist ein gebräuchliches griechisches Wort, das „Setzen, stellen, legen, machen“ bedeutet; und nomos kann in der Regel ... mit „Gesetz“ übersetzt werden. Nenomothetetai würde also ... einfach bedeuten „ist Gesetz gemacht worden“.1
Das Neue Testament ist Teil der Thora und nicht seine Aufhebung.
Der Messias kam, um die Thora zu vervollständigen, um sie aufzufüllen, nicht um sie abzuschaffen.
Die Thora lehrt, dass Menschen, auf die es besonders ankommt (die das Land erben sollen), sanftmütig sein sollen. Ist jemand verrückt oder ignorant genug, zu behaupten, dass wir nicht mehr sanftmütig sein sollen, weil Jesus ja sanft-mütig genug gewesen ist und damit die Thora erfüllt und abgeschafft hätte? Und warum soll dann Sanftmut eine Frucht des Geistes sein, der an jedem Baum aus der Pflanzung des Herrn wachsen soll?
1 Stern, Bd III, S. 49
Mittwoch, 16. September 2009
Lehrrede auf dem Berg I
Mathäus 5, 1 – 7,29
Einleitung
Die folgenden Kapitel sind für das Verständnis davon, wie sich die Kirche zum Judentum verhält, wie sich das Erste Testament zum Neuen Testament verhält und welche Bedeutung die Thora für Christen hat, von großer Bedeutung.
Jesus tritt uns hier als Lehrer gegenüber, als der Messias, von dem die Juden der damaligen Zeit erwarteten, dass er die Thora in neuem Licht erscheinen läßt, dass er sie neu auslegt. So heißt es z.B. in Hen. 49,1-3: „Weisheit ist wie Wasser ausgegossen, u. Herrlichkeit hört nimmer vor ihm (Messias) auf ... denn er ist mächtig über alle Geheimnisse der Gerechtigkeit .... in ihm wohnt der Geist der Weisheit und der Geist dessen, der Einsicht gibt, u. der Geist der Lehre und Kraft...“.
Von daher sehen wir auch die Beunruhigung der Zuhörer am Ende der Lehrrede: Die Menschen staunten über seine Lehre, denn er lehrte mit Vollmacht, nicht wie die Schriftgelehrten es taten. Rabbiner und Schrift-gelehrte pflegten ihre Lehrauffassungen mit den Meinungen anderer, möglichst angesehener und meist schon verstorbener Gelehrter zu begründen. Etwa nach der Formel: Rabbi X sagt im Namen des Rabbi Y, welcher im Namen des Rabbi Z sagte .... (folgt die Lehraussage). Jesus sagt in seiner Lehrrede wiederholt: „Es wurde euch gesagt, ich aber sage euch ....“ (folgt die Lehr-aussage. Darüber kennen wir die Reden der Propheten, die eingeleitet wurden mit den Worten: „So spricht der Herr...“. Auch demgegenüber sagt Jesus schlicht: „Ich aber sage euch ...“
Er lehrte wie einer der Vollmacht hatte. Er muss als Lehrer eine gute Arbeit geleistet haben, denn die Jünger, denen der auferstandene Herr auf dem Weg nach Emmaus die Schrift auslegte, fanden, dass ihnen „das Herz brannte“, dass ihr gesamtes inneres Wesen von der Lehre ergriffen war. Jesus muss auch deshalb gute Arbeit geleistet haben, weil aufgrund seiner Lehre mit Hilfe des Heiligen Geistes die Jünger in wenigen Jahrzehnten seine Lehre in „alle Welt“ getragen hatten – allen Verfälschungsversuchen und Irrlehren zum Trotz.
Zur Zeit Jesu war die Vorstellung der Juden darüber, wie jemand „gerettet“ werden kann in etwa folgender Maßen: Das Gesetz musste buchstäblich erfüllt werden, dann war derjenige, der dies tat, im Willen Gottes und wurde von ihm angenommen. Der Erfüllung von Geboten standen die Missetaten gegenüber wie auf einer Waage. Senkte sich die Schale mit den Missetaten, so kam der Missetäter in die Hölle, senkte sich die Schale mit den guten Taten, mit den Gebotserfüllungen, so war der Mensch gerecht und gerettet. Das war die Vorstellung dieser Zeit, das war die Lehre hauptsächlich der Pharisäer. Jesus wird zeigen, dass dies nicht dem biblischen Befund entspricht.
Gerecht wurde ein Mensch in der Vorstellung des Judentums also durch gute Taten, durch die Erfüllung von Geboten. „An Gelegenheit zu Gebots-erfüllungen ... mangelt es dem Israeliten nicht: die Tora begleitet ihn mit ihren Vorschriften auf Schritt u. Tritt, von der Wiege bis zu Bahre, so dass es niemand in Israel gibt, der nicht täglich 100 Gebotserfüllungen aufzuweisen in der Lage wäre.“
Durch die Erfüllung eines Gebotes wird ein Verdienst vor Gott erworben, mit der Übertretung eines Gebotes entsteht eine Schuld. Über Erfüllung und Übertretung wird im Himmel Buch geführt. Wie wir in der Betrachtung des Buchs der Offenbarung gesehen haben, ist diese Art von Buchführung auch am Ende der Zeiten nicht abgeschafft, allerdings mit dem Unterschied, dass die Buchhaltung über die Belohnung des Gerechten entscheidet und nicht darüber entscheidet, ob er gerecht ist oder nicht. Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, läßt sich nur durch die Annahme des Sühnetodes Jesu erreichen.
Für die damalige Auffassung genügt also eine Übertretung, welche die Gebots-erfüllung überwiegt, um den armen Menschen in die Verdammnis zu stürzen: „Da aber eine einzige an der Majorität fehlende Gebotserfüllung für das Gesamturteil über einen Menschen entscheidend werden kann, so wird dem Frommen der Rat erteilt, dass er sich immer zur Hälfte als einen Gerechten u. zur Hälfte als einen Gottlosen ansehe, vollbringt er dann eine Micvah, wohl ihm! Er hat die Waagschale der Verdienste zu seinen Gunsten geneigt.“
Dieser Art des frommen Lebensstils hat in der christlichen Kirche über einige Jahrhunderte Konjunktur gehabt; dann kam Luther und befand, dass man nicht durch Werke gerettet wird, sondern durch Glauben/Vertrauen. Den zuvor zitierten Satz (achte dich halb als gerecht und halb als verworfen) habe ich fast wörtlich in einer evangelikalen Predigt gehört, lange bevor ich ihn bei Strack-Billerbeck gelesen habe. Es sieht so aus, als wäre die Werkgerechtigkeit und die Ungewissheit über das eigene Heil nicht tot zu kriegen. Wir können uns also schon jetzt, ganz am Anfang unserer Betrachtung der Lehrrede darüber bewusst sein, dass auch uns die Gewissheit über unsere vorbehaltlose Annahme seitens Gottes wegen des Sühnetodes seines Sohnes, immer wieder verloren gehen kann.
Wir lesen und studieren die Bergpredigt nicht, damit wir wissen, wie wir gerettet werden können, sondern damit wir wissen, wie wir Gott gefällig leben und aller seiner Segnungen hier teilhaftig werden können, wie wir also glücklich leben können und dann später, wenn die Bücher aufgetan werden, eine anständige Belohnung erhalten.
Wir sollten darauf sehen, dass aus unserem Glauben, aus unserem Vertrauen auf das Erlösungswerk des Messias, gute Werke hervor kommen, nicht dass es uns so geht wie denen, zu denen Jesus sagen musste: Ich war krank und ihr habt mich nicht besucht, verschwindet, ich kenne euch nicht.
Für einen frommen Juden der damaligen Zeit kam es darauf an, die Verdienste möglichst zu mehren und die Sündenschuld zu verringern. Die Verdienste zu mehren war Aufgabe eines jeden einzelnen Menschen. Er konnte Gäste beher-bergen, Kranke besuchen, Gelehrte unterstützen, Trauernde trösten usw. Notfalls konnte man auch noch zurückgreifen auf die Verdienste der Väter.
Die Schuld ließ sich durch Sühnung mindern. „Der Mensch sühnt Sünde u. Schuld durch Buße, Fasten u. Gebet; Gott schafft Sühnung durch die im Gesetz vorgeschriebenen Opfer, durch den Versöhnungstag, durch Leiden, die er über den Menschen bringt, u. endlich durch den Tod des Menschen. Strack-Biller-beck hierzu: „Die altjüdische Religion ist hiernach eine Religion völligster Selbsterlösung; für einen Erlöser-Heiland, der für die Sünde der Welt stirbt, hat sie keinen Raum.“
Was sagen wir dazu? Ist Sündenvergebung durch das Opfern eines Tieres („ohne Blut keine Vergebung der Sünden“) wirklich „Selbsterlösung“? Würde das nicht bedeuten, dass die Thora Selbsterlösung lehrt und so, anstatt das Kommen des Messias vorzubereiten, das genaue Gegenteil macht, nämlich seine Annahme durch die Lehre der Thora selbst verhindert?
Der Bund mit Abraham wurde geschlossen durch das Vergießen von Blut (durch das „Schneiden“) der Opfertiere; wenn dieser Bund verletzt wird, muss erneut Blut vergossen werden, damit der alte Zustand wieder hergestellt werden kann.
Ist der Tod eines Menschen eine Sühne für seine Sünden? In der Zeit der alten Synagoge gab es diese Vorstellung. Aber selbst wenn diese Vorstellung stimmen sollte (sie stimmt nicht), wäre das denn „Selbsterlösung“? Der Mensch bringt sich doch nicht willentlich als Sündopfer selbst um; das wäre sogar Sünde.
Für die Zeit der alten Synagoge bleibt der Buchstabe der Thora für alles maßgeblich. „Ob es sich um seine religiös-sittlichen Pflichten gegen Gott handelte oder um sein Verhalten gegen Staat u. Gesellschaft, überall war sein Tun und Lassen geregelt durch die Satzungen der Halakah.“ Das menschliche Handeln wurde nach dem Buchstaben des Gesetzes beurteilt. „Lehrreich sind in dieser Hinsicht diejenigen Fälle, in denen man gewisse Gesetzesbestim-mungen auf Grund des Buchstabens einer andren Gesetzesbestimmung zum eigenen Vorteil umgehen konnte. Man nannte das „klüglich“ oder „schlau“ handeln. Tatsächlich lag in solchen Fällen eine Umgehung irgendeiner Gesetzesvorschrift vor; aber da sie durch den Buchstaben einer andren Gesetzesbestimmung legalisiert war, so galt sie als erlaubt u. berechtigt. Dass dieses „klügliche“ Verfahren eine besonders sittliche Handlungsweise darstellte, wird niemand behaupten; aber es zeigt, wie die pharisäische Gesetzespraxis das sittliche Verhalten allmählich herabdrückte auf eine Stufe mit dem korrekten Verhalten gegen den Buchstaben des Gesetzes. Das Gesetz hört auf, sittlichen Zwecken zu dienen, die Erfüllung seines Buchstabens wurde Selbstzweck. Das war die letzte Folge des Grundsatzes, dass die Erfüllung des Buchstabens des Gesetzes sich „decke mit der Erfüllung des Willens des göttlichen Gesetzgebers.“ Es wurde dann, um dem gegen zu steuern, verlangt, dass bei der Gesetzeserfüllung die Vorstellung vorhanden sein müsse, dass diese geschähe, um der jeweiligen Gesetzesbestimmung zu genügen; so wurde eine völlige Gedankenlosigkeit bei der Gesetzesferfüllung vermieden. Es wurde auch festgelegt, dass eine Gebotserfüllung, die durch den Verstoß gegen ein anderes Gebot zustande kommt, nichtig sei. Rabbinische Gelehrte ver-langten eine Herzensfrömmigkeit und es wurde der Grundsatz formuliert, dass das nachsichtige u. wohlwollende Verhalten gegen Menschen höher stehe als das rein legale Verhalten nach Maßgabe des starren Buchstabens des Rechts.
Diese Auffassung waren aber in der Minderheit, allgemein hatte sich die Auffassung durchgesetzt, dass die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes dem Willen Gottes genüge tue.
Nun kommt Jesus. Wie geht er in der „Bergpredigt“ vor? Greift er die falschen Vorstellungen von der Rettung durch Werke oder die Meinung, dass die buchstäbliche Erfüllung des Gesetzes genüge, um den Willen Gottes zu erfüllen, direkt an? Das macht er nicht. Er zerstört nicht, er baut auf. Er bringt das Neue und erneuert das Alte. Er sagt seinen Zuhörern: „Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, so werdet ihr gar nicht in das Himmelreich eingehen!"“(Mt. 5, 20) Dann zeigt er in einigen Beispielen, dass die Forderungen, die Gott stellt, weit über eine buchstäbliche Deutung hinausgehen. Die buchstäbliche Befolgung kann also nicht die Gerechtigkeit ergeben, die vor Gott gilt. Die Zuhörer sollen erkennen, dass ihre eigenen Anstrengungen nicht ausreichen, dass ihre eigene Kraft sie nicht gerecht machen kann. Daher sagt er ihnen gleich zu Anfang: seid arm im Geist, dann seid ihr selig, hungert nach der wahren Gerechtigkeit, dann werdet ihr selig.
Dieses „selig“ ist mit der Umschreibung „gesegnet, glücklich, vom Schicksal begünstigt“ wieder zu geben. In Psalm 144, 15 heißt es: „Wie gesegnet/glück-lich/vom Schicksal begünstigt ist das Volk, dessen Gott Adonai ist.“ Es steckt also eine Menge drin in diesem „selig“; es wäre gut, zu denen zu gehören, die „selig“ sind.
Vom Schicksal begünstigt zu sein, auch das kommt manch einem vielleicht bekannt vor. Wer kann Thora lernen? Nach den Pirke Avot, den Worten der Väter aus dem Talmud, ist dazu u.a. derjenige fähig, der sich über sein Schicksal freut, also derjenige, so kann man erweitern, der sich vom Schicksal begünstigt fühlt. Das muss nicht einmal den Tatsachen entsprechen, wenn man einen objektiven Maßstab anlegt. Vielleicht bist du krank, vielleicht alt und gebrechlich oder früh vergreist, vielleicht hast du in den letzten zwanzig Jahren deine Hausaufgaben nicht gemacht und stehst jetzt ohne Ausbildung im Leben. Bist du selig oder maulig? Du darfst dich entscheiden.