Geliebter Feind
Einem bösen Menschen nicht zu widerstehen, ist das vielleicht so etwas wie seinen Feind zu lieben?
Jemanden zu lieben ist im Gegensatz zu dem, was häufig gedacht wird, ein sehr realistischer Vorgang. Es geht bei Liebe nicht um schöne Gefühle, um die
berühmten „Schmetterlinge im Bauch“; dies gehört zur Verliebtheit dazu und ist etwas, das man gerne spürt.
Liebe hat mit Realität zu tun. Feindesliebe hat zunächst ganz einfach mit der Erkenntnis zu tun: Jawohl, da ist ein Feind. Kein Freund, der sich nur mal verstellt hat; kein fehlgeleiteter Mensch, der es eigentlich so böse nicht meinen kann; sondern: ein Feind, jemand der mir Böses antun will und es keinesfalls gut mit mir meint.
Einige Menschen, gerade unter den Christen, können gar nicht glauben, dass es wirklich Feinde gibt, echt böse Leute, die keinesfalls gut sein wollen (jeden-falls nicht zu dir). Wenn ich nüchtern erkannt habe, dass ich einen Feind besitze (viel Feind‘, viel Ehr‘), kann ich darauf besonnen und nüchtern reagieren. ‚Kann ich den Feind bekämpfen und besiegen; soll ich mich mit ihm verbünden; ist er im Recht oder bin ich im Recht; kann ich aus dem Feind einen Freund machen?‘ Bevor du etwas unternimmst, denke nach und bete und berede die Angelegenheit mit Gott und bespreche die Sache mit deinen Freunden (denn: wo viele Ratgeber sind, da wird eine Sache gelingen). Mit dem Feind ist es so (wir reden hier von einem menschlichen Feind; mit der Feindschaft des Teufels müssen wir anders umgehen, als in der Bergpredigt gelehrt wird: „Dem widersteht fest im Glauben“.): Der Feind ist ein Mensch. Er ist, geradeso wie du, nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Geradeso wie du hat er diese Ebenbildlichkeit verloren und hat das Ziel verfehlt. Aber er ist immer noch ein Mensch; er gehört zur „Welt“, für die der Messias gestorben ist.
Das ist keine Gefühlsduselei, sondern Realität. Im Umgang mit einem Feind muss ich dieser Realität Rechnung tragen. Ich muss wissen: Ich könnte falsch liegen und mein Feind könnte Recht haben. Als David beschimpft wird und seine Männer den Lästerer des Königs zur Rechenschaft ziehen wollen sagt David: „Laßt das sein. Vielleicht hat er ja recht, vielleicht hat Gott ihm diese Worte gesagt, dass er sie mir weiter sagen soll.“ ( 2. Samuel, 16, 5 ff)
Vielleicht gehört dieser Feind in das Erziehungsprogramm, welches der Herr für dich vorgesehen hat, wie er gesagt hat: „Wenn ich zu mir nehmen, den erziehe ich und weise ich zurecht.“ Vielleicht sollst du an dem Feind Standhaftigkeit lernen, vielleicht aber auch Nachgiebigkeit? Wenn du darüber betest, was du tun sollst, dann kannst du bei der Gelegenheit auch für deinen Feind beten. „So wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln“, heißt es in den Sprüchen. Autsch, wie gemein. Was ist gemeint?
In den Dörfern des Nahen Ostens war zur damaligen Zeit sowohl der Elektroherd als auch einfache Streichhölzer gänzlich unbekannt. Es oblag einem Dorfbewohner, über nacht ein Feuer zu hüten, Kohlen am glühen zu halten und dann, früh morgens, feurige Kohlen auf einen großen Metallteller zu häufen. Dann setzte er sich einen Ring aus Holz auf den Kopf und darauf den heißen Metallteller mit den glühenden Kohlen. Dann ging er von Haus zu Haus, von Hütte zu Hütte und die Hausfrauen nahmen mit einer Zange eine der glühenden Kohlen herunter und entzündeten damit das eigene Herdfeuer. Was für ein Segen am frühen Morgen! Kein langatmiges Feuermachen, sondern sofort Feuer für die Kochstelle. Wie viele freundliche Worte und Segenswünsche mag dieser Mann wohl gehört haben, bevor seine Runde zu Ende war? So liebst du deinen Feind: Aus einem bösen Widersacher wird ein gelobtes und nützliches Mitglied der Gesellschaft und er wird vielleicht sogar angesehener als du selber es bist. So kann Feindesliebe funktionieren.
Meiner Ansicht nach ist mit der Forderung, einem bösen Menschen nicht zu widerstehen nicht gemeint, dass wir einen gewalttätigen, gegenwärtigen und direkten Angriff auf uns oder einen Nächsten nicht ebenso gewalttätig zurückweisen dürfen. Das wäre mit der von uns bereits festgestellten, auf seiten Jesu und seiner Jünger durchaus vorhandenen Bereitschaft sich auch militant zu verhalten, nicht zu vereinbaren. Es geht auch hier um den Zeitpunkt und um das Maß und um unsere grundsätzliche Einstellung, um unseren Charakter.
(Lehrrede auf dem Berg; Matthäus 5 ff; auch: Bergpredigt)
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